1976 fragte O. Negt, „warum die Deutschen keine ‚Marseillaise’ haben“. Seine Antwort: „Weil es auf deutschem Boden nie die konkrete Erfahrung einer wirklichen … Revolution gegeben hat.“ Aber was ist los mit „den Deutschen“? Warum gab es hier nie eine Revolution? Und welche Folgen hatte dies – außer der von Negt genannten?
Die hiesigen Texte bemühen sich um historische (d.h.: nicht essentialistische) Antworten und beschäftigen sich dabei v.a. mit Besonderheiten des deutschen Rechtssystems.
1. Warum die Deutschen keine ‚Marseillaise’ haben
S. 27: „Es bekundet sich hier [in der Praxis des bundesdeutschen Verfassungsschutzes] ein universelles Mißtrauen in die Verfassungstreue des ganzen Volkes; von solchem Mißtrauen zehren alle autoritären Systeme. So ist es nur konsequent, wenn der Begriff der verfassungswidrigen Handlung zu dem der verfassungsfeindlichen Gesinnung verkürzt wird, […].“
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Sp.2811: „er Obrigkeitsstaat ruht in sich selber, […], wird also durch den R. bloß nachträglich begrenzt […] der deutsche R. des 19. Jhs. [bekommt] den Charakter einer Defensivveranstaltung.“
Sp. 2817 f.: „Zu schweren Bedenken gibt [...] ein Bedeutungswandel des R.begriffs Anlaß, der etwa seit 1975 aufgekommen ist, […], ein Begriffswandel, der die R.idee nicht mehr, wie bis dahin, gegen den Staat, sondern nun gegen Private wendet, nicht nur gegen Terroristen, sondern auch etwa gegen Teilnehmer von Demonstrationen, an denen es zu Sachbeschädigungen kommt, sowie gegen an Geländebesetzungen Beteiligte. [… es] wird dann im Namen des R.(!) mehr und mehr eine Verstärkung des polizeilichen Repressions- und Überwachungsinstrumentariums gefordert. Damit wird der Begriff des R. in sein Gegenteil verkehrt: ‚nicht mehr Schutzschild des Einzelnen in seiner Rolle als Störer oder Rechtsbrecher gegen unbegrenzte staatliche Prävention und Repression, sondern Legitimierung extensiver Sicherheitsmaßnahmen’ (F. Endemann). Oder ist dieser Begriffswandel vielleicht doch nur konsequent?“
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4. Von Weimar nach Bonn/Berlin: Vom fallweise-exzeptionellen zum ideologisch-permanenten Notstand
S. 74 f.: „Das Verhältnis von Staat und »Gesellschaft« (den Individuen und den sozialen Organisationen und Institutionen) ist mithin in der für die parlamentarische Ideologie charakteristischen Weise ideologisch derart strukturiert, daß der Staat als Mittel erscheint, mit dessen Hilfe sich die »spontane Homogenität« der sich und ihre Interessen als Zwecke des Staats setzenden gesellschaftlichen Kräfte herstellen und reproduzieren kann. Damit baut diese Ideologie auf das Funktionieren außerordentlich voraussetzungsreicher Prozesse politisch-ideologischer Vereinheitlichung und Konsensbildung in der Gesellschaft, das erst die pluralistische Vermittlung der Praxis des Staats, ihre Synchronisation mit der freiwilligen Zustimmung der maßgeblichen politischen Fraktionen ermöglicht. Problematisch waren diese Voraussetzungen in »Weimar« schon deshalb, weil sich derartige pluralistische Mechanismen und Ideologien in der (»besonderen«) deutschen Tradition kaum hatten herausbilden können, in der die Durchsetzung und Befestigung der bürgerlichen Ideologie auf spezifische Hindernisse gestoßen war: Der bürokratisch-militärische »Obrigkeitsstaat« des 19. Jahrhunderts hatte seine Praxis weniger auf spezifisch bürgerliche Ideologien und sozialintegrative Politikformen, in denen sich die »spontane Homogenität« der gesellschaftlichen Kräfte herstellen kann, als auf von ihm selbst kraft seiner Autorität definierte und gegen seine »Feinde« verteidigte »hermetische« Ordnungskonzepte gestützt, die sich an die Individuen richteten, deren Ein- und Unterordnung (nicht freiwillige Einigung) sie beanspruchten.“
S. 75: „All dies führte [ansatzweise bereits] in »Weimar« […] zu einer […] in die Defensive gedrängten parlamentarischen Ideologie: zu einer deutlichen Tendenz, das Pluralismuskonzept aus einem auf die empirischen politischen Verhältnisse bezogenen Struktur- und Verfahrensmodell in eine für alle politisch agierenden Subjekte verbindliche »restriktive« politisch-weltanschauliche Ethik umzumünzen“
S. 76: Sie sucht „sich weniger an realen politischen Verfahrensweisen und empirischen politischen Prozessen als vielmehr an einem abstrakten »relativistischen« philosophischen Konzept zu legitimieren […], das dazu tendiert, Verhaltens- und Gesinnungsimperative an die politisch agierenden Subjekte zu adressieren. Es geht ihr - Indiz ihrer Schwäche - nicht so sehr darum, die konkrete Nützlichkeit der parlamentarischen Institutionen und Methoden für die empirischen Individuen unter den konkreten politischen Bedingungen darzutun, sondern vor allem darum, deren überhistorische Notwendigkeit oder »Richtigkeit« »erkenntniskritisch« abzuleiten.“
S. 78, 79: „»Die Demokratie ihrerseits setzt den Relativismus voraus.« […]. Relativismus ist die allgemeine Toleranz - nur nicht Toleranz gegenüber der Intoleranz«. Es war vor allem dieses ideologische Konzept, dem nach 1945 die Aufgabe zufiel, die repressive politische Praxis des Staats zu legitimieren. Dazu war es deshalb besonders geeignet, weil es die Möglichkeit eröffnete, den Bruch mit der Vergangenheit des (diktatorischen) faschistischen wie des (»schwachen demokratischen«) »Weimarer« Staats hervorzuheben, zugleich aber an die politisch repressiven Traditionen antidemokratischer deutscher Staatlichkeit anzuknüpfen.“
S. 70: „Das Spezifische und gegenüber »Weimar« Neue aber besteht darin, daß der westdeutsche Staat, zudem von Rechts wegen, die Kompetenz beansprucht, bestimmte politische Richtungen generell politisch zu eliminieren, sie ein für allemal von der Bühne des Politischen zu verbannen. Die politische Repression hat hier die situativen, okkasionellen Momente zurückgedrängt, durch die sie in der Vergangenheit charakterisiert war; sie hat sich von den konkreten Umständen und Risiken konkreter veränderlicher Situationen abgelöst und ist, anders als in den überkommenen Notständen, Ausnahmezuständen und polizeilichen Gefahrensituationen, von bestimmten Gefahren und deren politischer Bewertung weithin unabhängig. Die »freiheitliche demokratische Grundordnung« legitimiert ihre Repressionen nicht an den Besonderheiten bestimmter Situationen und Zustände, sondern auf einer allgemeinen ideologischen Ebene.“ (fette Hv. d. Admin.)
S. 537: „The German bourgeoisie was never strong enough to carry through a thoroughly liberalized criminal procedure.“
S. 522: „Das deutsche Strafverfahren hat – nach Auffassung unserer Strafprozeßlehre – allen anderen Verfahrenskonstruktionen, vor allem der angelsächsischen, voraus, daß es der Wahrheitsfindung dient. Darin, wird behauptet, liege der Vorteil speziell für den Beschuldigten, dem letztendlich mit der Wahrheit mehr gedient sei als mit formalistischer Einhaltung seiner prozessualen Rechte.“ „Die Strafprozeß-Autoren verwickeln sich bei der Darstellung der Vor- und Nachteile beider Verfahrenstypen freilich in offenkundige Widersprüche. So meint Henkel, der beredt vor der ‚entschiedenen Schlechterstellung’ des Beschuldigten im angelsächsischen Prozeß warnt: ‚Die im Parteiverfahren größere Gefahr unvollkommener Durchdringung des Sachverhalts, also mangelhafte Tataufklärung, wird sich vielfach zugunsten des Beschuldigten – damit allerdings zu Lasten der Rechtsgemeinschaft – auswirken’“
S. 523: „Angelsächsische Kritiker bezeichnen das deutsche Verfahren daher auch als ‚Inquisitionsprozeß’. Nicht ganz zu Unrecht, denn dem deutschen Strafprozeß ist es nie gänzlich gelungen, sich vom obrigkeitlichen Inquisitionsprozeß zu lösen“.
S. 537: „Today, the courts as well as criminal jurisprudence declare the assumption of a defendant’s innocence until proven guilty and the equal regard for prosecution and defence in court (both rights upheld by the European Human Rights Commission) both as beeing incompatible with ‘our procedural structure’ and thus invalid. Indeed sometimes all the rights of the defendant in court are declared incompatible with the establishment of the truth.”
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6. Verrechtlichung der politischen Repression - ein deutscher Alleingang